Reflexionsraum zu Mehrsprachigkeit

Bildung

Interdisziplinärer Diskurs

Mag.a Edna Imamovic beim "Interdisziplinären Diskurs" an der PHDL

Linz – 17. Juni 2025

Minderheiten, Mehrsprachigkeit, Multikulturalität Begriffe, die an heimischen Schulen immer präsenter werden. Frau Mag.a Edna Imamovic vom Beratungszentrum an der PHDL wirft in ihrer aktuellen Doktorarbeit einen Blick auf Migration und Sprache und interessiert sich dabei für den Bildungsübergang nach der Sekundarstufe I aus der Perspektive migrationsbedingt mehrsprachiger Jugendlicher.

Aus ihrem Nachmittags-Vortrag vom 16. Juni 2025 ging eine Diskussion heraus, die erweiterte Perspektiven auf Beziehungen, Identität und Bildungspolitik eröffnete. In der PHDL-Reihe “Interdisziplinärer Diskurs” stand wie immer der Austausch mit dem Publikum im Mittelpunkt.

Vorbilder und Beziehungen

Die Diskussion begann mit der Frage nach der Bedeutung von Vorbildern für Biografien und Identitäten. „Vielleicht gelingt das mit den Vorbildern, vielleicht nicht", teilte Imamovic ihre Erfahrungen. Um Halt zu finden, erfordere es jedenfalls eine gute pädagogische Begleitung. Dahingehend hat Imamovic die Rolle der Lehrpersonen als „Scharnier der Kommunikation“ hervorgehoben: also als jene, die die Jugendlichen verstehen (oder eben nicht) und darüber mitentscheiden, ob sich Jugendliche im Unterricht verstanden und abgeholt fühlen. Eine Anwesende aus dem Publikum ergänzte hier: “Leuchtturmfiguren sind nicht erstrebenswert, sondern die Beziehungen.”

Mediale Narrative und familiäre Prägungen

Auch um eine Einschätzung zum Einfluss medialer Darstellungen zu Migration und Mehrsprachigkeit wurde aus dem Publikum gebeten und ob diese die Wahrnehmung und Bildungschancen von Schüler:innen beeinflussen. „Das kann schon eine Rolle spielen“, räumte Imamovic ein, als sich etwa eine befragte Schülerin in ihrer Einschätzung auf einen abwertenden Medienartikel zu in Österreich lebenden Tschetschen:innen bezog – für den Bildungsübergang dürften aber Bezüge zu Gesprächen mit Akteur:innen im direkten Umfeld eine stärkere Rolle spielen.

Zwischen Ideal und Realität

Eine weitere Bemerkung aus dem Publikum lenkte den Fokus auf mehrsprachige Regionen wie Südtirol oder Fribourg in der Schweiz, wo vermeintliche Modellregionen für sprachliche Integration vermutet werden, aber selbst in dritter und vierter Generation noch separate Bezugspunkte dominieren und Trennungen bei Bildung und sprachlich-kulturellen Zugehörigkeiten oft parallel nebeneinander fortbestehen. 

Imamovic gab hier einerseits zu bedenken, dass offizielle Inklusionsnarrative nicht immer mit den sozialen Realitäten der Menschen, die in Minderheitenkontexten leben, übereinstimmen müssen. “Je weiter die Generationenfolge, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass die Erstsprache verloren geht. Vor allem wenn es keine systemischen Strategien gibt, die eine Literalisierung in der/den Erstsprache(n) ermöglichen.” Sprache sei auch ein wichtiges Instrument, um ein mehrperspektivisches Bild des Herkunftslandes zu entwickeln, was letztlich ein multikulturelles Verständnis fördere und Wissen akkumuliere. 

Erstsprache als Ressource

Die „Pausensprache“ als Erholungsfaktor war ein spannendes Impulselement für die Diskussion. “Ich kann das nicht ablegen”, meinte in der Studie eine befragte Schülerin dazu, die Kurdisch als unverzichtbaren Teil ihrer Identität sieht. Bei einer dazu anschließenden Frage zu “geschützten Minderheitensprachen in Österreich” sah Imamovic gewisse Vorteile bei der Einführung schulischer Programme und betonte: "Mit der Erstsprache haben wir eine gute Möglichkeit, die Welt zu rekonstruieren – da wären gute Impulse wichtig.“ 

Von Handlungsspielräumen…

Bei der Diskussion zu Agency (= Fähigkeit und das Potenzial einer Person, Entscheidungen zu treffen) und Handlungsmöglichkeiten war es Imamovic wichtig, auch zwischen Erzählung und Lebensgeschichte zu differenzieren, wo eingeschränkte Optionen – etwa durch Freundschaften – eine Rolle spielen könnten, wo man also eigene Überzeugungen, sozialen Kontext und kulturelle Einbettungen mitberücksichtigen müsse. 

Zusammenspiel von Umfeld und System

Eine weitere Beobachtung aus dem Publikum lenkte den Blick auf “Maturaführende Schulen”, wo mehrsprachige Kinder auffälligerweise besonders in der HAK vertreten sind. Imamovic erklärte das zunächst allgemein damit, dass nach der Mittelschule nur 6 % in die AHS, HTL oder BAfEP wechseln würden. Dann verband sie es mit den Lebenswelten: “Freunde, Eltern, Schwestern oder Brüder sind entscheidend. Wenn die das vorschlagen, denken sich die Jugendlichen schon eher: ‘wenn die das schaffen, könnte man es auch schaffen.’" 

Außerdem könnte die räumliche Organisation eine Rolle spielen – oft gibt es eine maturaführende und eine nicht-maturaführende Form unter einem Dach. Dabei würden in ihren Befragungen die HTL als “schwer” und AHS als “nicht schaffbar” eingeschätzt. Auf die Frage hin, ob ein Gesamtsystem der Schule dienlich wäre, differenzierte Imamovic: "Nicht pauschale ‘Von-Oben-Drüber-Verbesserungen’, sondern die Umsetzung sei immer entscheidend. Der Zwang, sich nach der Volksschule zu entscheiden, wäre jedenfalls zu früh."

Sicherheit durch Bildung

Auch eine überraschende Schultypenwahl einer befragten Schülerin für die HAK, die den Arztberuf als Vorbild nannte, führte zu der Frage, ob überhaupt Unterschiede zwischen mehrsprachigen und monolingual deutschsprachigen Schüler:innen bestehen würden. Mit dem Hinweis auf fehlende Vergleichsdaten versuchte Imamovic eine Einschätzung abzugeben: „Ich habe mich das auch gefragt. In den Gesprächen kommt der Sicherheitsfaktor zu Tage – die Matura als Zwischenetappe. Klappt es später mit dem Arztwunsch nicht, hat man jedenfalls eine wirtschaftsbezogene Ausbildung oder kann in die nicht-maturaführende Form wechseln.“

Ein Ausblick 

Schulwahl, Familie, Freundeskreise, Alltagskultur – vieles bleibt auch in dritter Generation noch nebeneinander bestehen, ohne sich zu verweben. Es sind Lebenswelten, die sich kennen, aber sich nicht zwingend verbinden – und damit im Schulalltag oft segregativ wirken, selbst wenn sie offiziell als inklusiv gelten. Der Kurier stellt in seinem Beitrag vom 18. April 2025 zudem die Frage, wie man an Wiener Volks- und Mittelschulen eine positive Vielfalt schaffen kann, wenn die bisherige Mehrheitsgesellschaft zur Minderheit geworden ist. 

Zu Sprache und Migration lassen sich viele unbequeme Fragen stellen. Für Imamovic könnten aber Erkenntnisse dazu notwendige Wegweiser sein, um Bildungsräume bzw. Bildungsübergänge so zu gestalten, dass Vielfalt nicht nur geduldet wird, sondern aus der Sicht jener Jugendlichen – deren mehrsprachige Lebensrealitäten im Bildungssystem oft übersehen, unterschätzt oder fehlinterpretiert werden – nachhaltig als Stärke erkannt und auch genutzt werden kann.

Mehr Infos

Vor 10 Tagen hielt Frau Mag.a Edna Imamovic in der ÖBB Open Innovation Factory in Wien eine Key Note beim buntaž-Event in Wien für mehr Chancengleichheit.

Zentrum für Diversität und Inklusive Bildung (DIB)
Institut Wissenschaftstransfer

Zum Dissertationsprojekt

Mag.a Edna Imamovic untersucht in ihrer Dissertation, wie migrationsbedingt mehrsprachige Jugendliche den Bildungsübergang nach der Sekundarstufe I erleben und mitgestalten. Im Zentrum stehen dabei nicht nur schulische Leistungen, sondern auch sprachliche Zugehörigkeit, emotionale Erfahrungen und soziale Aushandlungsprozesse, die Bildungsentscheidungen beeinflussen. Anhand von Interviews und Beobachtungen an verschiedenen Schultypen analysiert sie, wie Mehrsprachigkeit im Bildungssystem wahrgenommen, bewertet und biografisch verarbeitet wird.